Belastung für die Psyche: Wie das Virus indirekt töten kann
Corona Suizid.
Die Angst vor dem Virus, die Einsamkeit in den eigenen vier Wänden und die ökonomische Unsicherheit: Die Corona-Krise verlangt der menschlichen Psyche vieles ab. Seit Monaten warnen Psychiater und Psychologen vor den seelischen Folgen der Pandemie und davor, dass die Zahl der Suizide nach oben klettern könnte. „Die Rate an Angst, Depressivität und Erschöpfung hat in Deutschland, aber auch in anderen Ländern zugelegt“, sagt der Psychiater Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Berliner Charité.
„Wir erleben, dass Menschen mit psychischen Vorerkrankungen nach manchmal jahrelanger Stabilität Rückfälle erleiden.“ Der Grund: Soziale Aktivitäten und damit auch Alltagsstrukturen gehen verloren, die eine wichtige Grundlage für seelische Stabilität bilden. „Und aus den Telefonseelsorgen wissen wir, dass Einsamkeit ein wesentlicher Grund für die zunehmende Zahl an eingehenden Hilferufen ist.“ Einsamkeit ist bekanntlich ein großer Stressfaktor für die Psyche. „Und die nimmt im Moment zu“, so Adli.
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Doch haben auch tatsächlich die Suizide und Suizidversuche im Zuge der Corona-Krise zugenommen? Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, weist bei dieser Frage zunächst auf einen wichtigen Punkt hin: Verbreitet sei die Ansicht, die mit dem Infektionsgeschehen einhergehenden Sorgen, Ängste und Belastungen der Bevölkerung könnten für einen möglichen Anstieg der Suizidversuche und Suizide sorgen. „Suizide sind aber keine Freitode“, so Hegerl.
„Sie erfolgen vielmehr zu 90 Prozent in Verbindung mit einer negativ verzerrten Weltsicht infolge von Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen.“ Und Depressionen, die mit Abstand häufigste Ursache für Suizide, seien eigenständige Erkrankungen und nicht nur Reaktionen auf schwierige Lebensumstände. Das bedeutet eben auch: Letztlich treiben einen coronabedingte Sorgen allein nicht zum Suizid. Es muss schon eine psychische Störung hinzukommen.
Zahlen für 2020 mit Vorsicht zu betrachten
In Deutschland ist es derzeit schwierig, an verlässliche Zahlen zu Suiziden zu kommen. Viele Behörden, die Suizide erfassen, haben noch keine Zahlen für 2020. Doch einige Landeskriminalämter (LKA) geben auf Anfrage Auskunft. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg etwa will zwar keine genauen Zahlen nennen, schreibt aber in einer E-Mail: „Wir können lediglich mitteilen, dass wir im Vergleich zu den Vorjahren tendenziell keinen Anstieg der Selbsttötungen in Baden-Württemberg feststellen können.“ Das Bayerische LKA legt Zahlen vor, die keinen Anstieg aufweisen. Und die Daten des LKA Rheinland-Pfalz zeigen sogar einen leichten Rückgang. Vom 1. Januar bis 16. November 2020 nahmen sich 426 Menschen das Leben. Im gleichen Zeitraum 2019 waren es hingegen 461.
Auch wenn diese letzten Zahlen hoffnungsvoll stimmen. Sie könnten lediglich die berühmte Ruhe vor dem Sturm markieren. So sind etwa die Suizide in Japan im April und Mai im Vergleich zu den gleichen Monaten in den Vorjahren um 20 Prozent zurückgegangen. Im August allerdings schnellten sie um fast acht Prozent nach oben. Und aus früheren Pandemien ist bekannt, dass es am Anfang kurz zu einem Rückgang der Selbsttötungen kommen kann. Forscher sprechen von einer „Flitterwochen-Periode“, in der der soziale Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung groß ist.
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Ausgerechnet die Corona-Krise selbst könnte die psychische Belastung von Menschen, die sich auch in den Suizidzahlen niederschlägt, verzerren. Das zeigt das Beispiel Frankfurt. „Im Zeitraum Januar bis Juli 2020 sind die Suizide in Frankfurt im Vergleich zu den Monaten aus dem Vorjahr um 30 Prozent zurückgegangen“, sagt Christiane Schlang, Leiterin der Abteilung Psychiatrie des Gesundheitsamtes Frankfurt. Das sind die Zwischenergebnisse ihrer Studie in Zusammenarbeit mit dem Uniklinikum Frankfurt.
Nun sind die Ergebnisse aber nicht nur vorläufig, sondern auch schwer zu interpretieren. Gingen die Suizide zurück, weil es am Ende den Menschen in der Corona-Krise psychisch besser ging? Wohl eher nicht. Andere Erklärungen hält Schlang für plausibler. „Etwa 20 Prozent der Menschen, die sich in den vergangenen Jahren im Stadtgebiet das Leben genommen haben, stammten nicht aus Frankfurt.“ Dabei handelt es sich um Pendler, Touristen oder Wohnsitzlose. „Pandemiebedingt haben sich in den ersten Monaten des Jahres 2020 weniger Menschen von außerhalb in Frankfurt aufgehalten“, so Schlang. Dies könne eine der Hauptursachen für den Rückgang der Suizidzahlen in Frankfurt sein.
Wegen Corona: Verschlechterung der medizinischen Versorgung bei Depressiven
Zudem registrieren die Behörden nur „erfolgreiche“ Suizide und nicht Suizidversuche, für die es keine verlässlichen Zahlen gibt. Der Psychiater Ulrich Hegerl glaubt, dass insgesamt mit einer Zunahme der Suizidversuche zu rechnen ist. Denn das Deutschland-Barometer Depression der Deutschen Depressionshilfe zeigt: Die Maßnahmen gegen Corona haben bei mehr als der Hälfte der depressiv Erkrankten zu einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung geführt. „Es ist davon auszugehen, dass dies zu vermehrten suizidalen Handlungen führt“, so Hegerl.
Hinzu kommt noch: Durch die räumliche Isolierung könne sich das Risiko erhöhen, dass Angehörige eine bei Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen auftretende Suizidgefährdung nicht erkennen. „Und damit auch nicht rechtzeitig Hilfe organisieren.“
Haben Sie Suizidgedanken? Dann wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern:
Telefonhotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste:
(0800) 111 0 111 (ev.)
(0800) 111 0 222 (rk.)
(0800) 111 0 333 (für Kinder/Jugendliche)
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Wettlauf gegen den Tod
14.11.2020, 12:00 Uhr
E-Mail unter www.telefonseelsorge.de
Quelle: https://www.rnd.de/
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